Evangelische Kirche in Priwolnoje (damals deutsche Kolonie Alt-Warenburg), Saratower Gebiet

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Evangelische Kirche in Priwolnoje © Denis Anikin, 2020

Die deutsche Kolonie Warenburg entstand 1767 an der Stelle des heutigen Priwolnoje. Der Name leitet sich von den deutschen Wörtern „Ware“ und „Burg“ ab, denn hier befand sich das Lager mit den Waren, die die deutschen Einwanderer bei ihrer Ansiedlung bekamen. Den früheren Namen Priwalnoje (vom russischen „Priwal“ = Halt) hat der Ort der Tatsache zu verdanken, dass die Kolonie als Rast- und Sammelstelle für die Ansiedler diente, die auf ihrem Weg zu anderen Dörfern waren. Im Laufe der Zeit wurde das frühere „Priwalnoje“ zum heutigen „Priwolnoje“, sodass der Siedlungsname jetzt auch mit dem russischen Wort „Wolja“ („Willen“) assoziiert wird.

Mit der Zeit wurde Warenburg dank der ausgezeichneten geografischen Lage, der malerischen Landschaft und der Nähe zur Wolga zu einer der größten deutschen Siedlungen: 1910 wohnten hier fast 8.500 Menschen. Zum Aufschwung der Ansiedlung trug auch die Schifffahrt auf der Wolga und die Nähe zur Eltoner Route bei, über die man Salz aus dem See Elton nach Pokrowskaja Sloboda (heute Engels) transportierte. Im Dorf gab es ein Ziegelwerk und ein Sägewerk, zwei Ölschlägereien, 14 Mühlen sowie eine Fähre über die Wolga, zudem wurden Anlegestellen für Dampfer und Getreide errichtet.

Evangelische Kirche in Priwolnoje © Denis Anikin, 2020

Die halb zerstörte lutherische Kirche, gebaut 1843, übt nach wie vor eine Anziehungskraft aus und bleibt eine Attraktion von Priwolnoje. Bis jetzt blieben hier wie durch ein Wunder 16 massive Säulen erhalten (je sechs auf den Seitenfassaden und vier am Haupteingang). Als ein eigenartiger Orientierungspunkt für vorbeiziehende Schiffe ragt die Kirche wie ein Leuchtturm über dem Wolga-Ufer empor, das inzwischen wegen der Unterspülung und Zerstörung des Küstenstreifens infolge einer Überflutung des Wolgograder Stausees deutlich näher zur Kirche gerückt ist.

Nach der Schließung der Kirche 1937 wurde das Gebäude als Dorfclub genutzt. Auf der Spitze der Kirche war zu Zeiten der Sowjetmacht statt des Kreuzes ein roter Stern aufgesetzt. Nach der Zwangsumsiedlung der Deutschen wurde 1943 unter dem Gewölbe der ehemaligen Kirche eine Maschinen- und Traktoren-Station untergebracht. Die Einheimischen erzählen den Gästen gerne die Legende, dass vom Pfarrhaus in die Kirche ein 200 Meter langer Erdgang führt, durch den während des Aufstandes gegen die Bolschewisten deren Leiter vor den Verfolgern flohen.

Evangelische Kirche in Priwolnoje © Denis Anikin, 2020

Im Inneren der Kirche gab es Sitzbänke für 1.200 Besucher, Balkone (für unverheiratete Mädchen über dem Eingang, für junge Männer an den Seitenwänden), drei Kristallkronleuchter und drei Öfen für die Beheizung. Das Innere des Gotteshauses war in zarten weiß-blauen Tönen gehalten. In der Kirche wurde eine 15-Register-Orgel der bekannten deutschen Firma „Walcker“ aus Ludwigsburg aufgestellt, die 1889 hergestellt und nach Russland gebracht wurde. Auf dem Glockenturm waren drei Glocken mit einem Gewicht von 450 kg angebracht.

Um die Kirche herum war ein großer Park angelegt, der von einem Zaun mit schmiedeeisernem Tor umgeben war. Hinter dem Park begann das Messegelände mit Rasenflächen und rechteckigen Fußwegen. Neben der Kirche befand sich das 1907 erbaute Pastorat, ein steinernes Schulgebetshaus, Wohnhäuser der Kaufmänner Hoppe und Miller (heute „Miller-Schule“), die Verwaltung, die Bibliothek und die Gehöfte der Siedler.

Anfang September 1941, nach der Zwangsumsiedlung der Deutschen, wurde im Dorf eine Strafarbeitskolonie eingerichtet, der größte Teil von Priwolnoje wurde mit Stacheldraht umzäunt und statt der Kirchenspitze ragten über den deutschen Häusern Türme mit Wachposten empor. Zurzeit leben im Dorf etwa 1.000 Menschen.

Text

Prof. Dr. Sergey Terekhin, Prof. Dr. Olga Litzenberger

Standortinformationen

Evangelische Kirche in Priwolnoje (damals deutsche Kolonie Alt-Warenburg), Saratower Gebiet
Gebiet Saratow, Dorf Priwolnoje, Komsomolskaja Str. 8
 

In Kooperation mit dem Bayerischen Kulturzentrum der Deutschen aus Russland e. V. (BKDR)

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