Russland:Mehrfamilienhaus an der Wolschskaja Str., 34, Saratow: Unterschied zwischen den Versionen

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Die Zeitungen veröffentlichten in dieser Zeit häufig Nachrichten über den Bau von für die Stadt bedeutenden Objekten. Behördliche Mehrfamilienhäuser „mit höherem Komfort“ (heute „Stalinbau-Wohnungen“ genannt), die die neue Ästhetik und – was nicht weniger wichtig erschien – die von der sowjetischen Gesellschaft geschaffenen Lebens- und Komfortqualität verkörperten, wurden in den zehn Jahren vor Kriegsbeginn gebaut und waren bestimmt von Interesse. So berichtet das Lokalblatt „Der Kommunist“ im Mai 1936: „[...] Am 10. April dieses Jahres. „Inzhkoopstroj“ hat mit dem Bau des 3. Hauses für Ingenieure und Techniker im Stadtzentrum begonnen [...] Dieses Haus wird architektonisch eines der besten in der Stadt sein. Es wird 36 Wohnungen mit allen Bequemlichkeiten wie Parkettböden und Warmwasserversorgung haben. Neben dem Haus wird es Geschäfte, einen Kindergarten, ein Büro und eine Wäscherei geben“. Der Artikel wurde mit der Darstellung des künftigen Hauses illustriert.  
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Die Zeitungen veröffentlichten in dieser Zeit häufig Nachrichten über den Bau von für die Stadt bedeutenden Objekten. Behördliche Mehrfamilienhäuser „mit höherem Komfort“ (heute „Stalinbau-Wohnungen“ genannt), die die neue Ästhetik und – was nicht weniger wichtig erschien – die von der sowjetischen Gesellschaft geschaffenen Lebens- und Komfortqualität verkörperten, wurden in den zehn Jahren vor Kriegsbeginn gebaut und waren bestimmt von Interesse.  
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So berichtet das Lokalblatt „Der Kommunist“ im Mai 1936: „[...] Am 10. April dieses Jahres. „Inzhkoopstroj“ hat mit dem Bau des 3. Hauses für Ingenieure und Techniker im Stadtzentrum begonnen [...] Dieses Haus wird architektonisch eines der besten in der Stadt sein. Es wird 36 Wohnungen mit allen Bequemlichkeiten wie Parkettböden und Warmwasserversorgung haben. Neben dem Haus wird es Geschäfte, einen Kindergarten, ein Büro und eine Wäscherei geben“. Der Artikel wurde mit der Darstellung des künftigen Hauses illustriert.  
  
 
Dieses Gebäude ist wohl eines der am besten gelungenen Häuser seiner Zeit. Vor allem ist es sehr geschickt auf seinem kleinen Grundstück platziert, präzise und dezent in das Umfeld integriert. Der Architekt schlug eine hufeisenförmige Konstruktion vor: Der fünfstöckige Bau weicht quasi von der Gebäudefront zurück, ohne dass er mit seiner Größe die benachbarten kleineren Häuser in den Hintergrund treten lässt – zu diesen gehört das private Wohnhaus von I. Schmidt, das Bischofshaus und die orthodoxe Kapelle „Lindere meinen Kummer“. Delikat ist auch die Methode der Abrundung der äußeren Ecken des Gebäudes. Es sei bemerkt, dass „Ingenieure und Techniker“ durch diese Kompromisse keineswegs beeinträchtigt wurden: Die Fenster in den meisten Wohnungen sind auf den Stadtgarten Lipki gerichtet, auf dessen gegenüberliegender Seite das Haus steht.
 
Dieses Gebäude ist wohl eines der am besten gelungenen Häuser seiner Zeit. Vor allem ist es sehr geschickt auf seinem kleinen Grundstück platziert, präzise und dezent in das Umfeld integriert. Der Architekt schlug eine hufeisenförmige Konstruktion vor: Der fünfstöckige Bau weicht quasi von der Gebäudefront zurück, ohne dass er mit seiner Größe die benachbarten kleineren Häuser in den Hintergrund treten lässt – zu diesen gehört das private Wohnhaus von I. Schmidt, das Bischofshaus und die orthodoxe Kapelle „Lindere meinen Kummer“. Delikat ist auch die Methode der Abrundung der äußeren Ecken des Gebäudes. Es sei bemerkt, dass „Ingenieure und Techniker“ durch diese Kompromisse keineswegs beeinträchtigt wurden: Die Fenster in den meisten Wohnungen sind auf den Stadtgarten Lipki gerichtet, auf dessen gegenüberliegender Seite das Haus steht.

Version vom 28. März 2022, 13:11 Uhr

Das Wohnhaus an der Wolchskaja Str., 34 © Alexander Milewskij, 2021

Fjodor Franzewitsch Leonhardt (1886–1938) war einer von vielen deutschstämmigen Architekten und Ingenieuren, die in Saratow gelebt und gearbeitet haben. Er kam 1907, kurz nach seinem Studium in Moskau, hierher und war als Leiter der Zeichenabteilung in Gouvernement-Semstwo (damals regionale Landschaftsvertretung) tätig. Über seine berufliche Biografie ist in der Literatur wenig überliefert; es ist nur bekannt, dass er in den 1920er Jahren Mitglied der Gruppe des Landmaschinenwerks Saratow „Swesda“ war und es Ende der 1920er Jahre noch schaffte, an einigen Projekten in Taschkent und Nischnij Nowgorod zu arbeiten. Es ist sehr wahrscheinlich, dass Leonhardt beteiligt war an der Gestaltung des Sowjethauses der autonomen sozialistischen Sowjetrepublik der Deutschen aus der Wolga-Region in Engels.

Zu Leonhardts Bauwerken in Saratow gehören die Wohnhäuser in der Moskowskaja-Str. 128 und 130 (beide Häuser wurden 1926 restauriert) an der Ecke von Moskowskaja-Str. und Stepan-Rasin-Str., in der Wolschskaja-Str. 24 (1935 umgebaut), in der Sowjetskaja-Str. 16, an der Ecke der Gorki-Straße 19 (KIK-Wohnhaus, 1935) und in der Wolschskaja -Str. 34 (1936–1939).

Das Wohnhaus an der Wolchskaja Str., 34 © Alexander Milewskij, 2021

Die Zeitungen veröffentlichten in dieser Zeit häufig Nachrichten über den Bau von für die Stadt bedeutenden Objekten. Behördliche Mehrfamilienhäuser „mit höherem Komfort“ (heute „Stalinbau-Wohnungen“ genannt), die die neue Ästhetik und – was nicht weniger wichtig erschien – die von der sowjetischen Gesellschaft geschaffenen Lebens- und Komfortqualität verkörperten, wurden in den zehn Jahren vor Kriegsbeginn gebaut und waren bestimmt von Interesse.

So berichtet das Lokalblatt „Der Kommunist“ im Mai 1936: „[...] Am 10. April dieses Jahres. „Inzhkoopstroj“ hat mit dem Bau des 3. Hauses für Ingenieure und Techniker im Stadtzentrum begonnen [...] Dieses Haus wird architektonisch eines der besten in der Stadt sein. Es wird 36 Wohnungen mit allen Bequemlichkeiten wie Parkettböden und Warmwasserversorgung haben. Neben dem Haus wird es Geschäfte, einen Kindergarten, ein Büro und eine Wäscherei geben“. Der Artikel wurde mit der Darstellung des künftigen Hauses illustriert.

Dieses Gebäude ist wohl eines der am besten gelungenen Häuser seiner Zeit. Vor allem ist es sehr geschickt auf seinem kleinen Grundstück platziert, präzise und dezent in das Umfeld integriert. Der Architekt schlug eine hufeisenförmige Konstruktion vor: Der fünfstöckige Bau weicht quasi von der Gebäudefront zurück, ohne dass er mit seiner Größe die benachbarten kleineren Häuser in den Hintergrund treten lässt – zu diesen gehört das private Wohnhaus von I. Schmidt, das Bischofshaus und die orthodoxe Kapelle „Lindere meinen Kummer“. Delikat ist auch die Methode der Abrundung der äußeren Ecken des Gebäudes. Es sei bemerkt, dass „Ingenieure und Techniker“ durch diese Kompromisse keineswegs beeinträchtigt wurden: Die Fenster in den meisten Wohnungen sind auf den Stadtgarten Lipki gerichtet, auf dessen gegenüberliegender Seite das Haus steht.

Das Wohnhaus an der Wolchskaja Str., 34 © Alexander Milewskij, 2021

Die Architektur des Hauses ist typisch für die Epoche des sogenannten „Stalin-Empire“, hat aber keinen unnötigen Prunk und erinnert nicht an einen sperrigen Schrank. Die plastischen Linien, Proportionen und die Silhouette sind aufeinander abgestimmt, die fein gezeichneten Details sind ausgewogen und sogar die Fassade mit plakativ gehaltenem Basrelief, die fast ein Muss für die Bauwerke jener Zeit war, scheint ein bisschen ironisch zu sein.

Die Biografie des 52-jährigen Architekten endet 1938, während das Haus 1939 fertiggestellt und bezogen wurde, fast zwei Jahre nach seinem Tod. Es gibt noch einige offene Fragen, aber auch die uns heute bekannten Fakten erlauben es, Leonhardt, der das Gestalten fein und präzise begriff und sie meisterhaft in seinen Projekten löste, zu den besten Architekten von Saratow seiner Zeit zu zählen.

Text

Prof. Dr. Sergey Terekhin, Prof. Dr. Olga Litzenberger

Standortinformationen

Mehrfamilienhaus an der Wolschskaja Str., 34, Saratow
Saratow, Wolschskaja-Str. 34