Süßwarenfabrik „Roter Oktober“ (ehemals „Einem und Co“)

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Süßwarenfabrik „Roter Oktober“ (ehemals „Einem und Co“) am Ufer des Moskwa-Flusses © Batanai Schamu

Ein ganzes Viertel mit Gebäuden der ehemaligen Süßwarenfabrik nehmen heute verschiedene Büros, Kulturräume, Ausbildungseinrichtungen, Cafés, Klubs und Restaurants ein. Doch gerade mal vor 30 Jahren verbreitete der Wind von hier aus über die ganze Stadt den süßen Geruch der Schokoladenbonbons, die dort hergestellt wurden. In den Jahren der Sowjetunion hieß die Fabrik „Roter Oktober“, vor der Revolution trug sie den Nachnamen ihres Gründers Theodor Ferdinand von Einem.

Einem wurde im Jahre 1826 in der preußischen Stadt Belzig geboren. Im Alter von 20 Jahren, im Jahre 1846, kam er nach Moskau, mietete eine Wohnung und einen Raum für seine Feinbäckerei mit zwei bis drei Tischchen auf dem Alten Arbat. Bald darauf heiratete er eine Deutsche, Karolina Müller, fand russische Geschäftspartner und eröffnete dank ihren Investitionen in der Petrowka-Straße eine kleine Süßwarenfabrik, die zehn verschiedene Schokoladensorten, Schokoladenbonbons und Pralinen herstellte. Damals wurde Schokolade aus dem Ausland nach Russland importiert, deshalb waren die Produkte der Fabrik sehr gefragt. Ende 1867 verlegte Einem seine Fabrik an die Sofijskaja-Uferstraße.

Beim Kauf von Produktionsanlagen freundete sich Einem mit dem Moskauer Deutschen (in Moskau lebenden Deutschen) Julius Heuss an. Er wurde im Jahre 1832 in Walddorf in der Familie eines Priesters aus dem Schwarzwald geboren und kam im Alter von 22 Jahren nach Russland im Alter, wo er anfangs in Odessa arbeitete. Zwei Jahre später heiratete Heuss die 16-jährige Deutsche Warwara (Barbara) und zog im Jahre 1857 nach Moskau um. Seine Ehefrau starb im Alter von 21 Jahren an Tuberkulose, 1861 in Berlin auf dem Weg zur Kur nach Ems. Sohn Julius Karl wurde später zur Hauptstütze des Vaters im Geschäft. Drei Jahre nach dem Tod seiner Frau heiratete Heuss seine Kusine, die Tochter des Militärberaters Kornelia Kapff, mit der er 43 Jahre glücklich zusammenlebte. In dieser Ehe kamen zwölf Kinder zur Welt – neun Söhne und drei Töchter.

Vor der Bekanntschaft mit Theodor Ferdinand von Einem arbeitete Heuss als Geschäftsreisender in Deutschland, im Geschäft seiner Verwandten in Odessa und zehn Jahre in Moskau in Firmen, die sich auf Straßenbeleuchtung mit Kerosin und Gas spezialisierten. Der Umsatz der Süßwarenfabrik wuchs ständig, Einem brauchte einen zuverlässigen Helfer und schlug Heuss im Jahre 1868 vor, sein Geschäftspartner zu werden. Am 12. Mai 1870 schlossen die beiden einen Vertrag in Berlin ab, dem zufolge Einem 60 Prozent und Heuss 40 Prozent des Gewinns bekam. Der Name der Fabrik wurde nicht geändert, weil die Marke schon bekannt war, aber zu Einems Nachnamen wurden die Buchstaben „Co“ hinzugefügt.

Einem widmete seine ganze Kraft dem Geschäft. Er litt an Herzinfarkten, und fuhr deshalb im Jahre 1876 mit seiner Frau nach Berlin, um seine Gesundheit zu stabilisieren. Das Ehepaar hatte keine Kinder. Theodor spürte sein nahes Lebensende und schlug Heuss vor, ihm seinen Anteil am Geschäft zu verkaufen. Julius wurde zum alleinigen Eigentümer der Firma. Ein paar Monate später starb Einem in Berlin. Noch zu Lebzeiten verkündete er den Wunsch, in Moskau begraben zu werden. Die Urne mit seiner Asche wurde auf dem Wwedenskoje-Friedhof beigesetzt.

Heuss, dem im Geschäft seine Ehefrau und seine Söhne halfen, baute an der Bersenewskaja-Uferstraße Fabrikgebäude nach den zeitgenössischen Weltstandards. Das hochkarätige Inventar wurde speziell auf Bestellung des Geschäftsbetriebs in Deutschland hergestellt: hydraulische Pressen, Abschrotmühlen, Reibmaschinen, Öfen zum Rösten von Kaffee. Heuss war ein fachkundiger Arbeitgeber: Er führte als einer der ersten in Russland den Achtstundentag ein, gründete eine Fabrikwohngemeinschaft, eine Mensa, eine Krankenkasse und eröffnete eine Schule für Lehrlingskinder. Erwachsenen Arbeitern wurde nach 25 Jahren tadellosen Dienstes eine namentliche Silbermedaille verliehen und eine angemessene Rente gezahlt. In der Fabrik herrschte eine Atmosphäre der traditionellen deutschen Strenge und Sparsamkeit.

Heuss war lange Zeit der unabsetzbare Vorsitzende der Moskauer Pflegschaft für arme Evangelisten und nahm aktiv an karitativen Aktivitäten teil. Dadurch genoss er allgemeine Hochachtung und Popularität in Moskau. Am 17. September 1907 starb Julius Heuss im Alter von 75 Jahren. Nach seinem Tod wurde sein ältester Sohn Julius Heuss Junior zum Geschäftsführer ernannt.

Im Jahre 1910 stieg die Zahl der Arbeiter in der Fabrik „Einem“ auf 2.800 Menschen, und die Kosten der Produktion betrugen 7,8 Millionen Rubel. Im Jahre 1912 hatte die Firma sechs Einzelhandelsgeschäfte in Moskau. In Bezug auf den Umsatz belegte die Fabrik den ersten Platz in der Süßwarenindustrie Russlands. Im Jahre 1913 erhielt die Gesellschaft „Einem“ den Namen „Hersteller des Hofes Seiner Kaiserlichen Majestät“. Der Warenkatalog umfasste etwa 300 Waren, hier wurden nicht nur Bonbons und Plätzchen hergestellt, sondern auch Hustenbonbons, Fruchtgelee, Fruchtkonfekt, Lebkuchen, Honigkuchen, Aprikosenmark, Tomatenpaste, Sirup, Senf, Mixed Pickles, Fruchtsäfte, Kakao und Schokoladenpulver. Die Moskauer mochten insbesondere die figürlichen Bonbons „Japanischer Halsschmuck“, die Karamellen „Teatralnaja“, „Djusches“, „Benediktin“, „Zemljanitschnaja“ und „Barbaris“.

Im Jahre 1915 im Zusammenhang mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges, den Moskauer Pogromen gegen alles „Deutsche“ und den Anti-Liquidationsgesetzen, laut denen in Gesellschaften keine deutsches und österreichisches Kapital sein durfte, war die Familie Heuss gezwungen, Russland zu verlassen. Im Jahre 1918 wurde die Fabrik verstaatlicht und in „Staatliche Süßwarenfabrik Nr. 1“ umbenannt. Im Jahre 1922 erhielt sie den Namen „Roter Oktober“, aber auf den Etiketten wurde mindestens bis Anfang der 1930er-Jahre der Zusatz „ehemalige Einem“ gedruckt, als gewinnsichernde Werbung der Kundschaft. In den 2000er-Jahren trat die Fabrik der Firma „Vereinte Konditoren“ bei und lagerte die Produktion außerhalb von Moskau aus. Doch in Moskau gibt es noch Markengeschäfte, in denen die Waren der ehemaligen Fabrik verkauft werden, einschließlich der alten Verpackung mit der Aufschrift „Einem“ oder „Roter Oktober“.

Standortinformationen

Süßwarenfabrik „Roter Oktober“ (ehemals „Einem und Co“)
Moskau, Bersenewskaja-Uferstraße 16/4
 

In Kooperation mit dem AOV „Internationaler Verband der deutschen Kultur“

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