«Die schönste und berühmteste Tankstelle der Welt»

Aus goethe.de
Wechseln zu: Navigation, Suche

Nicht weit von Montreals Stadtmitte entfernt, auf der im Sankt-Lorenz-Strom liegenden «Nonnen-Halbinsel» südwestlich des Stadtkerns, findet sich ein kleiner Architektur-Juwel eines der bedeutendsten Architekten des 20. Jahrhunderts: die Esso Tankstelle von Ludwig Mies van der Rohe (1886 – 1969). Mies, der sich nach der Jahrhundertwende vom passionierten Autodidakten zur Architektur- und Möbeldesign-Ikone der Moderne schlechthin entwickelt hatte, parallel zu seinen nicht minder bekannten und einflussreichen Architekten Kollegen Frank Lloyd Wright in den Vereinigten Staaten und Le Corbusier in Frankreich, hatte sich seinen guten Ruf nicht zuletzt auch als letzter Direktor der Bauhaus Schule/Universität in Berlin erworben. 1932 wurde diese weltbekannte und für die nachfolgende Rolle der modernen Architektur und Industrie-Design bahnbrechende Schule von den Nationalsozialisten zwangsaufgelöst und Mies am Ende der 30er Jahre ins US-amerikanische Exil vertrieben.

In seiner neuen Wahlheimat begann er eine zweite Karriere, die ihm in den letzten 3 Jahrzehnten vor seinem Tod Weltruhm und internationale Anerkennung bringen sollte mit Werken wie dem Universitäts-Campus der IIT (1940ger Jahre), den Apartmenthochhäusern am Chicagoer Lake Shore Drive 860/880 (1950/1951), New Yorks Seagram Building (1954/1958), sowie seinem allerletzten Werk, der Neuen Nationalgalerie in Berlin (1969). Aus dieser Zeit stammt auch die Montrealer Tankstelle, wohl eines seiner ungewöhnlichsten Projekte überhaupt, welches gleichzeitig jedem Architekturliebhaber beispielhaft die Essenz der Theorie und Praxis der Mies’chen Architektursprache nahezubringen vermag.

Die im Jahre 2011 von dem Montrealer Architekturbüro FABG durchgeführten Sanierungs- und Umbauarbeiten der zwischenzeitlich verlassenen und vom Verfall bedrohten Tankstelle in ein intergenerationnelles Freizeitzentrum, «Haus der Generationen» genannt, respektiert in großem Maße die Elemente und Ideenkonzepte des gesamten Mies’chen Denkens: durch die Integration der für damalige Zeiten neuen Baustoffe wie Stahl, Zement, und Glas sowie neuer angewandter Technologien zu höchster baulicher Qualität und Ästhetik zu gelangen.

Und in der Tat: auf fast magische Weise erschließt sich sowohl dem Amateur als auch dem Kennerblick Mies’ bekanntes Motto «Weniger ist mehr» («Less is more») und sein darauf basierendes Ziel, «das Praktische und das Schöne in eine Verbindung zu bringen». Die freitragende Dachkonstruktion liegt wie schwebend auf zwölf massiv verschweißten Stahlträgern, ausgedehnt über zwei voneinander unabhängigen gläsernen Volumen, die ehemals die Werkstatt einerseits, die eigentliche Tankstelle mit Verkaufsraum andererseits verkörperten, beide getrennt von einem zentral platzierten kleinen Glaskubus, der heute als Schlüsseldepot für ein städtisches Auto-share Programm dient. Die geniale Einfachheit der Gesamtkonstruktion wird nicht zuletzt auch durch die schwarz lackierten und geschweißten Stahlbalken und Pfeiler in Kontrast zu den weiß-emaillierten Paneelen sowie den unter der Dachabdeckung installierten geometrischen Lichtstreifen der Leuchtstoffröhren eindrucksvoll hervorgehoben. Achten Sie auch bitte während Ihres Besuches sowohl auf Mies’ Standortwahl der Tankstelle und deren Einbettung in das angrenzende Wohngebiet, als auch auf die durchgeführte Landschaftsgestaltung unmittelbar um das Objekt herum, beides Elemente, welche für Mies von derselben Bedeutung waren wie die eigentliche Konstruktion der Tankstelle selbst.

Adresse

La Sation, centre intergénérationnel
201, rue Berlioz
Verdun, Île des Sœurs Montréal, QC H3E 1C1

weiterführende Infomationen

Film: «Regular or super: views on Mies van der Rohe»
Joseph Hillel, J. Hillel & Patrick Demers
Englisch/Französisch, 57 min
Quatre par Quatre Films Inc, 2004
weitere Werke von Ludwig Mies van der Rohe in Montreal:
• Westmount Square, Montreal
• Apartmenthäuser Îsle des Soeurs