Wilhelm Neumann – Architekt und Vater der baltischen Kunstforschung

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Wilhelm Neumann. Veröffenlicht in: Die Rigaer Jubiläums-Ausstellung in Bild und Wort. Hg. M. Scherwinsky. Riga: 1902

Er galt als wandelndes Lexikon. Als Architekt, Forscher und Denkmalpfleger leistete Wilhelm Neumann Pionierarbeit. Die beeindruckende Laufbahn des vielseitigen Wissenschaftlers begann in Daugavpils.

Martin-Luther-Kirche Daugavpils, dahinter Katholische Marienkirche, ebenfalls von Neumann. © Foto: Elita Grosmane

Als Wilhelm Neumann 1895 die offizielle Architektenzulassung des Russischen Zarenreiches erhielt, blickte der Stadtbaumeister von Daugavpils (Deutsch: Dünaburg) bereits auf eine stattliche Karriere zurück. Nach seinen Entwürfen waren in der größten Stadt der Region Lettgallen zahlreiche Bauten entstanden. Das alte Bahnhofsgebäude, das Stadtkrankenhaus und das Gericht tragen seine Handschrift. Vor allem mit seiner Backstein-Architektur prägte er das Stadtbild nachhaltig, wie die schlichte neugotische Martin-Luther-Kirche auf dem Kirchberg eindrucksvoll bezeugt.

Bahnhofsgebäude Daugavpils. © Foto: Daugavpils Novadpētniecības un mākslas muzejs

Über drei Jahrzehnte lebte und wirkte Neumann in Daugavpils. Doch seine Wurzeln liegen woanders. Geboren wurde er 1849 im mecklenburgischen Grevesmühlen. Als Jugendlicher zog Wilhelm mit seiner Familie aus nicht näher bekannten Gründen ins livländische Kreutzburg (Lettisch: Krustpils). Mit nur 15 Jahren begann er bereits seine berufliche Laufbahn. Beim Baubüro für einen Abschnitt der Eisenbahnlinie zwischen Riga und Witesbk in Daugavpils machte er eine Ingenieursausbildung. Sein Chef und Lehrer: der bekannte deutsche Architekt Paul Max Bertschy (1840-1911).

Nicht zuletzt dank Bertschys entdeckte Neumann früh sein Interesse für Kunst und Architektur. Er studierte in Riga, Sankt Petersburg und in seinem Geburtsland, wo er in dem berühmten Kunst- und Architekturhistoriker Wilhelm Lübke (1826-1893) einen guten Freund und Kollegen fand. Lübke motivierte den jungen Wissenschaftler dazu, sich näher mit der wenig erforschten Kunstgeschichte des Baltikums zu befassen. Seine zahlreichen Veröffentlichungen wie das Lexikon baltischer Künstler (1908) gelten bis heute als Standardwerke und machten Neumann zum „Vater der baltischen Kunstforschung“.

Jachtclub, 1898, Balasta dambis 1, Riga. Foto: Katrin Wolschke

Nach seinem Deutschlandaufenthalt und Reisen durch Europa kehrte er 1878 als Stadtbaumeister zurück nach Daugavpils. Er wollte frischen Wind in die damalige Baupraxis bringen, deren fehlende behördliche Aufsicht er bemängelte. Doch seine Reformversuche blieben ohne Erfolg. Wissbegierig stürzte sich Neumann in die Forschung und verfasste unzählige wissenschaftliche Bücher und Aufsätze, von der mittelalterlichen bis zur modernen Kunstgeschichte Europas. Mit 42 Jahren promovierte er an der Universität Leipzig.

Nach wie vor widmete sich der rastlose Kunstforscher auch der praktischen Architektur. Nachdem er an der Petersburger Akademie erfolgreich seine Architekturprüfung abgelegt hatte, ging er mit 46 Jahren nach Riga. Auf dem Gebiet der Restaurierung historischer Bauten, wie z.B. des Rigaer Doms, leistete er mit seinen Ansätzen zur Bewahrung des Alten unter modernen Gesichtspunkten Pionierarbeit. Auch um die Denkmalpflege machte sich der als bescheiden geltende Mann verdient. Sein stilistisch vielfältiges Schaffen spiegelt sich in den insgesamt 47 Objekten wieder, die Neumann in Riga und im ganzen Baltikum errichtete: Schlösser und Herrenhäuser, öffentliche und Wohngebäude, Schulen und Sakralbauten.

Städtisches Kunstmuseum in Riga – Vorderseite. Foto: Katrin Wolschke

Neumann gilt heute als eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der lettischen Kulturgeschichte. Sein zweifellos wichtigstes Bauwerk ist das Städtische Kunstmuseum Rigas (heute: Nationales Kunstmuseum), das erste rein zu diesem Zweck errichtete Museum im Baltikum. Doch das Gebäude, bei dem Neumann auch die innenarchitektonische Planung übernahm, traf anfänglich nicht den Geschmack seiner Zeitgenossen. Der barocke Monumentalbau an der Krišjāņa Valdemāra iela galt als unmodern. Mit der Eröffnung 1905 nach nur zweijähriger Bauzeit übernahm Neumann selbst die Museumsleitung. Erst kurz vor seinem Tod wurde er 1919 durch die Bolschewisten seines Amtes enthoben.

Standort- und Besucherinformation

Martin-Luther-Kirche
18. novembra iela 66
Daugavpils, LV–5404
LETTLAND