Evangelisch-lutherische Kirche in Lipovka (damals deutsche Kolonie Schäfer), Saratower Gebiet

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Evangelische Kirche in Lipovka © Denis Anikin, 2020

Das Erscheinungsbild des heutigen Lipowka, das 1766 als deutsche Kolonie Schäfer gegründet wurde, wird noch immer vom ursprünglichen architektonischen Plan bestimmt, in dessen Mitte sich ein Marktplatz mit Kirche, einer Schule, einem Pfarrhaus, Gehöften der wohlhabenden Ansiedler und dem Haus des lehrenden Schulmeisters befand.

Der Hauptplatz wird immer noch durch das halb zerstörte Gebäude der ehemaligen lutherischen Kirche geschmückt, auf deren gezacktem Turm wie durch ein Wunder eine kleine Glocke – die einzige auf dem ganzen Gebiet der gegenwärtigen Region Saratow – erhalten blieb. Die übrigen Glocken wurden aus den Kirchen entfernt und in den 1930er Jahren, als im Land massenweise Kirchen aller Konfessionen geschlossen wurden, für eine „Traktor-Kolonne“ umgeschmolzen.

Evangelische Kirche in Lipovka. Turm © Denis Anikin, 2020

Heute führen mehrere Treppen auf den Turm mit der Glocke und einer antiken Uhr. Auf der steinernen Wendeltreppe kann man sogar auf die höhere Etage steigen, während die weiterführende Holztreppe nur in Teilen oben im Glockenturm erhalten geblieben ist. Die 1905 erbaute Kirche in Schäfer hatte damals eine ganz neuartige architektonische Gestaltung. Der Grundriss und die Außendekoration des Gotteshauses ähnelten romanischen Kirchen; von den deutschen Kirchen aus der Wolga-Region unterschied sie sich durch die spitzbogigen, in den Himmel ragenden Turmspitzen, die gezackten Ornament, die originalen Fassadenverzierungen und die vielen hohen Fenster.

Die Kirche war der ganze Stolz der Bewohner von Schäfer und bot Platz für 4.000 Betende (bei einer Gesamtbevölkerung von etwa 2.700 Einwohnern im Jahre 1905!). Laut Statistik gab es in Schäfer Anfang des 20. Jahrhunderts 220 Haushalte. Einige Bewohner waren Handwerker oder spezialisierten sich auf die Herstellung von Wollmützen.

Das historische Paradox, dass die Anzahl der Plätze in der Kirche fast doppelt so hoch war wie die Anzahl der Einwohner, lässt sich durch den langjährigen Konkurrenzkampf mit den benachbarten lutherischen deutschen Dörfern um das Recht erklären, das Zentrum der lutherischen Gemeinde zu werden und so einen Pfarrer zum ständigen Aufenthalt zu gewinnen. Die revolutionären Ereignisse von 1917 und die anschließende Zwangsumsiedlung der Deutschen aus ihrem Wohnort unterbrachen jedoch den geschichtlichen Lauf des deutschen Luthertums in der Wolga-Region.

Ruinen der evangelischen Kirche in Lipovka © Denis Anikin, 2020

Obwohl die heutige Kirche zum Kulturerbe der Region gehört, hat sie kein Dach mehr und befindet sich in einem schlechten Zustand. Im Januar 2017 sprachen sich die Dorfbewohner gegen die Entscheidung der örtlichen Behörden aus, die alte Glocke von der Kirche zu entfernen, und nahmen sie unter ihren Schutz: Es gelang ihnen, mediale Aufmerksamkeit zu erregen und die Demontage der Glocke zu verhindern.

Seit einigen Jahren suchen die Einwohner nach Kunstfreunden und Aktivisten, die in der Lage sind, der Kirche neues Leben „einzuhauchen“ und sich an der Restaurierung der Kirche zu beteiligen. Ihr Schicksal bleibt jedoch unklar. Dieses Meisterwerk der deutschen Architektur, das von mehreren Generationen von Russlanddeutschen finanziert wurde, wurde ohne Bedauern zerstört. Es könnte ein Museum im Freien untergebracht werden: Vielleicht würde das die Kirche vor weiterer Zerstörung schützen und Lipowka zu einem touristischen Ziel oder Kulturzentrum der Wolga-Region verwandeln.

Text

Prof. Dr. Sergey Terekhin, Prof. Dr. Olga Litzenberger

Standortinformationen

Evangelisch-lutherische Kirche in Lipovka (damals deutsche Kolonie Schäfer), Saratower Gebiet
Schäfer (Lipowka) Kooperatiwnaja Str. 17a
 

In Kooperation mit dem Bayerischen Kulturzentrum der Deutschen aus Russland e. V. (BKDR)

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