Evangelisch-lutherische Kirche in Starizkoje (ehemals deutsche Kolonie Reinwald), Gebiet Saratow

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Evangelische Kirche in Starizkoje © Denis Anikin, 2020

Einem Betrachter, der sich in der sakralen Baukunst nicht auskennt, fällt es heute recht schwer, im Freizeitzentrum Starizkoje eine ehemalige deutsche Kirche zu erkennen. Man kann sich kaum vorstellen, wie die Kirche und das umliegende Gelände vor dem radikalen Umbau der Kirchenanlage zu Sowjetzeiten und dem Abriss des Glockenturms ausgesehen haben.

Der ehemalige Kirchenbau mit seinen massiven Säulen – vier an jedem Giebel und jeder Seite – fügt sich nicht so recht in die Dorflandschaft ein. Der hundert Jahre alte deutsche Backstein, nicht von ungefähr für seine Beständigkeit bekannt, ist weiß getüncht. Die ehemalige Kirche bedarf einer Renovierung, doch trotz fehlender Spitze und abgeblättertem Putz sind die Ausmaße dieses Bauwerkes auch heute beeindruckend. Als höchstes Gebäude mehrerer Nachbardörfer ist es aus großer Entfernung, noch vor der Straßenabzweigung zum Dorf zu sehen.

Evangelische Kirche in Starizkoje. Blick vom Eingang aus © Denis Anikin, 2020

Die deutsche Kolonie Reinwald (russ. Stariza) wurde im Jahr 1766 von 57 Familien aus Württemberg, Kurpfalz, Sachsen und anderen deutschen Fürstentümern gegründet und nach ihrem ersten Vorsteher benannt. Anfang des 20. Jahrhunderts zählte das Dorf bereits mehr als 5.000 Einwohner, die auf freiwilliger Basis Spendenaktionen organisierten und sich am Bau der Kirche beteiligten. Die Gemeindemitglieder stellten die Backsteine selbständig in einer Fabrik her, die der Kirchengemeinde gehörte, und schlossen im Jahr 1913 die Bauarbeiten ab.

Die Kirche wurde in dem für deutsche Wolgakolonien typischen „Kontorhausstil“ gebaut, der dem Spätklassizismus nahekommt. Sie verdankt ihr repräsentatives Erscheinungsbild dem sogenannten Narthex – eine schmale Vorhalle – mit vier massiven Säulen, die von einem Dreieckgiebel gekrönt sind, und dem Rundfenster über dem Eingang. Der rechteckige dreigeschossige Glockenturm mit einem Kreuz auf der Spitze hatte drei Glocken. Im Obergeschoss der Kirche lag die Empore, die ebenfalls auf Säulen gestützt war. Unten waren die Bänke für die Gemeindemitglieder in vier Quadrate gegliedert, die durch Längs- und Quergänge unterteilt waren. Neben der Kirche wurden ein bis heute erhalten gebliebenes Gebetshaus und ein Pfarrhaus errichtet.

Ehemalige deutsche Schule in Starizkoje © Denis Anikin, 2020

Kirchendiener waren damals zusätzlich zu ihren unmittelbaren Pflichten mit Ackerbau und sogar Seidenproduktion betraut. Unter ihrer Anleitung pflanzten die Einwohner von Reinwald Maulbeerbäume, und ein Pastor der Gemeinde wurde sogar „für den Aufbau des Seidengewerbes“ ausgezeichnet. In dem rauen Klima erwies sich jedoch die Züchtung von Maulbeerbäumen als nicht profitabel und büßte allmählich seine ursprüngliche Bedeutung ein.

Im November 1933 wurde die Kirche geschlossen, obwohl der erste Antrag auf ihre Auflösung durch die Behörden von einem Sonderausschuss abgelehnt worden war, „da eine Person für mehrere Personen unterzeichnet hatte und weil die Zahl der Dorfeinwohner eindeutig untertrieben worden war“. Doch in Zeiten einer massiven antireligiösen Propaganda, des sowjetischen Aufbaus und der flächendeckenden Kollektivierung in der Landwirtschaft war die Schließung der Kirche unvermeidlich.

Ein einheitliches Bauensemble bilden das in der Nähe des ehemaligen Kirchenplatzes gelegene ehemalige Pfarrhaus, das Lehrerhaus, das Gebetshaus und die ehemalige Kirchenschule. Diese Bauwerke hatten wesentlich mehr Glück als viele andere deutsche Baudenkmäler in der Wolgaregion.

Text

Prof. Dr. Sergey Terekhin, Prof. Dr. Olga Litzenberger

Standortinformationen

Evangelisch-lutherische Kirche in Starizkoje (ehemals deutsche Kolonie Reinwald), Gebiet Saratow
Gebiet Saratow, Verwaltungsdistrikt Engels, Starizkoje, Tsentralnaia Str. 15
 

In Kooperation mit dem Bayerischen Kulturzentrum der Deutschen aus Russland e. V. (BKDR)

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