Evangelisch-lutherische Kirche in Ust-Solicha (ehemals deutsche Kolonie Messer), Gebiet Saratow

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Evangelische Kirche in Ust-Solicha © Denis Anikin, 2017

In dieser Kirche, die sich in Ust-Solicha (Gebiet Saratow) befindet, kommen die typischen Merkmale der deutschen Baukunst am deutlichsten zum Ausdruck. Noch heute steht sie für die deutsche Architektur in der Wolgaregion.

An der Stelle des heutigen Dorfes Ust-Solicha befand sich seit 1766 eine der malerischsten deutschen Kolonien. Sie wurde am gleichnamigen Fluss gegründet und erhielt ihren deutschen Namen Messer von ihrem ersten Vorsteher. Die aus Hessen, Preußen und der Pfalz stammenden Kolonisten stellten Sarepta-Stoffe her, und die Siedlung war neben anderen Wolga-Kolonien dominierend in der Produktion von Baumwollkleidung.

Die Brüder Schmidt, Kaufleute und Industrielle, stammten aus Ust-Solicha und gründeten hier in den 1840er Jahren die Handels- und Gewerbegesellschaft Gebrüder Schmidt, die später nach Saratow verlegt wurde. Außerdem erfand ein Kolonist aus Ust-Solicha namens Riesch die sogenannten „Dung-Briketts“ (Dung-Torf), ein gepresstes Gemisch aus Dung und Stroh, das in Stücke geschnitten und in der kalten Jahreszeit statt Brennholz für die Beheizung von Häusern genutzt wurde.


Evangelische Kirche in Ust-Solicha. Turm © Denis Anikin, 2017

Ust-Solicha verdankte seinen Ruf auch dem Sohn des örtlichen Pastors Johann Huber, Eduard Huber, der 1838 als erster den Goethes „Faust“ und diverse Werke von Schiller ins Russische übersetzte. Eduard Huber schrieb über sein Heimatdorf: „Auf Russlands Ruf sind Deutschlands Söhne / Zur fernen Wolga hingeeilt. / Hier hat man ihnen kühne Pläne / Und Wald und Wiesen zugeteilt. / Dort steht ein Dorf: Ich seh‘ es vor mir, / Wie es am grünen Ufer strahlt / Und in die blauen Wellen schaut…“.

Im Jahr 1911 errichteten die Einwohner des Dorfes, das damals bereits 6.000 Menschen zählte, hier eine Steinkirche. Sie entsprach dem neuesten Trend in der Architektur und faszinierte die Zeitzeugen mit ihrer dynamischen Komposition, ihren ausgefeilten Formen und den zierlichen Details. Die eleganten Proportionen und das virtuose Ornament aus Backstein an den Außenwänden verliehen der Kirche ein prachtvolles Erscheinungsbild. Der massive Glockenturm mit vier spitz auslaufenden, symmetrisch angelegten Türmchen wurde von einer Holzspitze mit drei Meter hohem Kreuz gekrönt. Das Gotteshaus schmückten geschnitzte Simse und Buntglasfenster in bogenförmigen Öffnungen.

Zu Sowjetzeiten wurde diese Kirche erst im Jahr 1937 geschlossen – als eine der letzten deutschen Kirchen in der Wolgaregion. Die Behörden empfahlen, das Gebäude für eine Lesestube zu nutzen.


Ehemaliges Pastorat in Ust-Solicha © Denis Anikin, 2017

In den letzten 80 Jahren diente die Kirche als Lagerhalle: Im Altarteil – der Apsis – wurde Beton gelagert und gemischt. Der Glockenturm, dessen Holzspitze 2008 eingestürzt ist, liegt nahezu in Ruinen. Die ohne Spitze und Kreuz gebliebene Kirche wirkt fast wie eine Ruine, verlassen und zweckentfremdet. Aber auch in ihrer heutigen Gestalt strahlt sie Harmonie aus.

Diese Kirche an der Wolga mit ihrer eleganten Silhouette und dem typischen Dekor an den Fassaden hinterlässt einen bleibenden Eindruck. Feierlich wirken auch die um das Gotteshaus herum liegenden deutschen Steinbauten. Der Kirchenplatz, das ehemalige Pfarrhaus und die ehemalige Schule, in der heute eine Bibliothek und ein Freizeitzentrum untergebracht sind, bilden ein einheitliches Bauensemble. Zum Glück haben es die Ortseinwohner vorläufig noch nicht fertiggebracht, all dies endgültig zu zerstören und die Kirche in einen Haufen unnützer Backsteine zu verwandeln.

In unmittelbarer Nähe zur Kirche befindet sich heute anstelle der früheren Kolonialhäuser ein Straflager.

Text

Prof. Dr. Sergey Terekhin, Prof. Dr. Olga Litzenberger

Standortinformationen

Evangelisch-lutherische Kirche in Ust-Solicha (ehemals deutsche Kolonie Messer), Gebiet Saratow
Gebiet Saratow, Ust-Solicha, Straßenkreuzung Tsentralnaia/Sarechnaia
 

In Kooperation mit dem Bayerischen Kulturzentrum der Deutschen aus Russland e. V. (BKDR)

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