Evangelische Jesus-Christus Kirche in Sorkino (damals deutsche Kolonie Zürich, Saratower Gebiet)

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Evangelische Jesus-Christus Kirche in Sorkino © BKDR, Denis Anikin, 2020

Die lutherische Kirche in Sorkino wurde 1877 gebaut. 1767 wurde das Dorf, das ursprünglich Zürich hieß, von 42 Familien aus Hessen-Darmstadt, Sachsen und Rheinland-Pfalz gegründet. In seiner Blütezeit, Anfang des 20. Jahrhunderts, zählte Zürich über 5.000 Einwohner und hatte 615 Haushalte, eine Dampf- und 12 Windmühlen, eine ambulante Krankenstation, ein Krankenhaus und eine Apotheke. Nach der Deportation 1941 gab es hier praktisch keine Deutschen mehr. Heute zählt das Dorf 726 Einwohner (Stand: 2010).

Die Züricher Kirche wurde nach dem Entwurf des bekannten Berliner Architekten, Rektor der Technischen Universität Berlin und Mitglied der Deutschen Akademie der Künste Johann Eduard Jacobsthal (1839–1902) gebaut, der durch seine herausragenden architektonischen Entwürfe in Deutschland und Frankreich berühmt wurde.

Die Zeichnungen, deren Originale von einem Einwohner aus Saratow auf dem Dachboden des Hauses entdeckt worden waren, wurden im Juli 1873 für eine lutherische Kirche in Astrachan angefertigt. Wegen der hohen Kosten verzichteten die Bewohner von Astrachan allerdings auf die Realisierung dieses Projektes. In der Gemeinde von Zürich, deren hölzerne Kirche 1871 durch einem Blitzeinschlag abgebrannt war, wurden die nötigen Mittel jedoch gefunden. So wurde die wunderschöne neuromanische Kirche 1877 fertiggestellt und geweiht und wurde zum Stolz der Gemeinde.

Evangelische Jesus-Christus Kirche in Sorkino © BKDR, Denis Anikin, 2020

Auf der Spitze des 48 Meter hohen Kirchturms (2 Meter höher als die amerikanische Freiheitsstatue) wurde ein drei Meter hohes Kreuz angebracht und im Turm eine mechanische Musikspieluhr eingebaut, deren Zifferblatt heute im Museum der Kirche aufbewahrt wird. In ihrer Schönheit konnte sich die Kirche in Zürich mit den besten Exemplaren der europäischen Architektur messen lassen.

An der Errichtung des Gotteshauses von Zürich beteiligte sich der Saratower Architekt Karl Tiden, der zwei Jahre später, 1879, eine exakte Nachbildung dieser Kirche in der Stadt Saratow baute (diese Kirche an der Ecke der Straßen Nemezkaja und Radischtschewa wurde Anfang der 1970er Jahre zerstört; an ihrer Stelle wurde das Gebäude des landwirtschaftlichen Instituts gebaut).

Am 14. Juli 1935 beschlossen die Behörden, die Kirche aufzulösen: Von den verbleibenden 615 Mitgliedern der kirchlichen Gemeinde stimmten 506 für ihre Schießung. Das drei Meter hohe Kreuz und die Glocke wurden aus der Kirche entfernt die Uhr auf dem Turm wurde abgeschaltet. Die aus Deutschland in die Wolga-Region gebrachte Orgel wurde achtlos weggeworfen, weil sie unbrauchbar erschien. Bald wurde auch die hölzerne Turmspitze zerstört.

Evangelische Jesus-Christus Kirche in Sorkino © Stiftung „Zürich-Sorkino“, 2017

Ab Mitte der 1930er Jahre wurde das Gebäude als Getreidespeicher genutzt, später befand sich hier eine Werkstatt, danach ein Kinosaal. 1987 wurde das ehemalige Gotteshaus, das damals als dörfliche Kulturhalle diente, umfassend saniert, doch 1992 wurde die Kirche durch einen nächtlichen Brand beschädigt, weshalb vom Gebäude nur die Wände übrigblieben und mit der Zeit von Bäumen und Gebüsch bewachsen wurde.

Aber auch nach dem Brand zogen die Ruinen zahlreiche Touristen an, die extra kamen, um die ehemalige Pracht der Kirche zu bewundern. Die Heimatforscher nannten sie Dornröschen, die auf ihren Prinzen wartete. 2011 kam der russische Unternehmer Karl Karlowitsch Loor erstmals auf den Gedanken, die Kirche in Erinnerung an seinen Vater, der aus diesem Dorf stammte, wieder aufzubauen. Die Bauarbeiten begann im Sommer 2013. 2014 wurden in Österreich die Glocken gegossen und eine neue Uhr auf dem Turm begann wieder die Zeit zu zählen.

Heute beherbergt das Gebäude ein historisches Museum und eine Bibliothek. Für die Einheimischen dient die Kirche als Kulturzentrum, und für die Touristen ist neben der Kirche ein neuer Hotelkomplex platziert.

Die wiederaufgebaute Kirche ist nicht nur ein schönes Beispiel deutscher Kirchenarchitektur, sondern auch ein Vorbild für die uneigennützige Kunstfreundschaft und die Bewahrung der historischen Erinnerung.

Text

Prof. Dr. Sergey Terekhin, Prof. Dr. Olga Litzenberger

Standortinformationen

Evangelische Jesus-Christus Kirche in Sorkino (damals deutsche Kolonie Zürich, Saratower Gebiet)
Pervomajskaja-Str. 33, Dorf Sorkino, Gebiet Saratow

Links

In Kooperation mit dem Bayerischen Kulturzentrum der Deutschen aus Russland e. V. (BKDR)

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