Projektierungsinstitut Giprovtuz (Staatliches Institut für die Projektierung von Hochschuleinrichtungen)

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Projektierungsinstitut Giprovtuz © Alexandr Pimenow

In den 1870er-Jahren wurde das Anwesen in der Stoleschnikow Gasse von dem Weinhändler Jegor Löwe erworben. Hier brachte er sein Weingeschäft unter, welches in ganz Moskau bekannt war und in einer Reihe von literarischen Werken erwähnt wurde (z.B. im Roman „Anna Karenina“ von Lew Tolstoi). 1903 erbaute der Architekt Adolf Erichson für Löwe ein neues, im Stil der Moderne reich dekoriertes Haus. Seine Fassade ist großzügig mit Stein und Bronze verziert, in der Mitte der vierten Etage befindet sich ein Balkon. Ebenso ist das Haus mit Maskeraden in Form von Frauengesichtern, die von Weinreben umschlungen sind, geschmückt – dies sollte auf die Art des Gewerbes im Haus und die Tätigkeit des Hausherren hinweisen. Das Haus wird von einem großen halbrunden Fenster gekrönt – ein typisches Detail des Architekten Erichson, das er bei vielen seiner Arbeiten verwendete.

Nach der Revolution wurde das Weingeschäft verstaatlicht, es behielt jedoch mit dem Übergang in das Eigentum des Staates seine Spezialisierung bei. Nun war es ein Firmengeschäft der Weinverwaltung beim Ministerium für Lebensmittelindustrie der UdSSR, später das Geschäft „Früchte und Wein“.

Projektierungsinstitut Giprovtuz © Alexandr Pimenow

Auf den ersten Etagen des Gebäudes wurde 1930 das Projektierungsinstitut Giprovtuz (Staatliches Institut für die Projektierung und den Bau von Hoch- und Fachschuleinrichtungen) untergebracht, später wurde dieses in Vuzstrojprojekt umbenannt. Als dessen Chefarchitekt wurde Hannes Meyer ernannt, der Leiter der Brigade „Rot Front“ und Direktor der Hochschule für Bauwesen und künstlerische Konstruktion, besser bekannt als Bauhaus-Universität. Die Anhänger dieser Schule, die 1919 in Weimar begründet wurde, vertraten eine avantgardistische Architektur, lehnten Überfluss von Verzierungen ab und planten Gebäude ohne jegliche Dekorationen, da sie den „puren Funktionalismus“ bevorzugten. „Was pragmatisch ist, das ist auch bequem, und was bequem ist, das ist auch schön“ – so lautete das Motto des Bauhauses. Ihre Architekten konzentrierten sich vorrangig auf die Befriedigung der Massennachfrage nach funktionalem Stil. Im Jahr 1925 zog das Bauhaus von Weimar nach Dessau um, 1932 weiter nach Berlin, bevor es bereits ein Jahr später nach der Machtergreifung durch die Nazis geschlossen wurde. Die neuen Machthaber sahen im Bauhaus eine „Brutstätte des Kulturbolschewismus“.

Projektierungsinstitut Giprovtuz © Siemens Fotoarchiv

Noch vor der Schließung des Bauhauses in Deutschland siedelten viele seiner Aktivisten in die UdSSR über, darunter Hannes Meyer, der im Februar 1931 nach Moskau kam. Zusammen mit ihm kamen 30 weitere Fachkräfte, unter ihnen die Architekten Rene Mensch, Klaus Neumann, Phillipp Tolziner, Bela Scheffler, Anton Urban und Tibor Weiner. Zur gleichen Zeit fand im Staatlichen Museum für moderne westliche Kunst in der Pretschistenka eine Bauhaus-Ausstellung statt. Die angekommenen Fachkräfte gründeten die „Architekten-Stoßbrigade ‚Rot Front‘“, für die Räume in einem Haus auf dem Arbat-Platz zur Verfügung gestellt wurden. Bald darauf wurde „Rot Front“ in das Giprovtuz integriert und Hannes Meyer als dessen Chefarchitekt berufen. Seine Schüler und Kollegen nahmen an einem Entwurf-Wettbewerb für den Palast der Räte in Moskau teil, berieten andere Projektierungsinstitute (im Einzelnen Giprogor – Staatlicher Trust zur Planung von Siedlungen und Zivilprojekte des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten der RSFSR) und unterrichteten am Institut für Architektur und Bauwesen. Meyers Frau, Helena Bergner-Meyer, entwarf Stoffmuster für die sowjetischen Textilfabriken. Auch die deutschen Architekten hinterließen ihre Spuren beim Bau von Werkssiedlungen (Sozgorod) um die neu entstehenden Werke in Magnitogorsk, Swerdlowsk, Orsk, Perm, Solikamsk und in anderen Städten. 1933 reichte Hannes Meyer einen Generalbebauungsplan im Bauhaus-Stil für Birobidschan ein, der jedoch nur teilweise umgesetzt wurde. Dafür ist es Meyer gelungen, seine Entwürfe von Lehrkombinaten für das Werk „Krasnoje Sormowo“ in Gorkij (heute Nizhni Nowgorod) zu verwirklichen. Zudem wurde unter Beteiligung von Tibor Weiner die Metro-Station „Aeroport“ gebaut.

Projektierungsinstitut Giprovtuz © Alexandr Pimenow

1934 endete Meyers Vertrag und er verließ die UdSSR, später arbeitete er in Mexiko und der Schweiz. Rene Mensch fuhr ebenfalls in die Schweiz, Konrad Püschel kehrte nach Deutschland zurück. Die in Moskau verbliebenen deutschen Architekten setzten ihre Arbeit fort, doch schon bald kamen die Bauhaus-Ideale aus der Mode und traten ihren Rang an die üppigen „stalinistischen Neoklassik“ ab.

Einige der Bauhaus-Leute wurden Ende der Dreißigerjahre Repressalien unterworfen. So wurde Bela Scheffler am 20. November 1942 im Stadtteil Kommunarka erschossen. Phillipp Tolziner wurde 1938 zu einer 10-jährigen Haftstrafe in einem Lager im Ural verurteilt. Hier rettete ihn ein Zufall vor dem Tod: Ein zur Behandlung angereister Zahnarzt benötigte einen Zahnarzt-Stuhl und Tolziner fertigte ihm einen Entwurf an (das Dokument ist bis heute erhalten geblieben). Nach diesem Vorfall wurde der Architekt vom Baumfällen in die Lagerverwaltung versetzt und als Ingenieur für Bauwesen berufen. Er blieb bis 1947 im Lager, danach arbeitete er in der Entwurfswerkstatt unter dem Chefarchitekten von Solikamsk, beteiligte sich an der Planung von neuen Stadtteilen und der Restaurierung von Architekturdenkmälern (darunter einige Kirchen) in der Altstadt. In der Chruschtschow-Epoche erreichte Tolziner seine Rehabilitierung, verblieb jedoch in der UdSSR. Tolziner entwarf auch den Stadtteil Vtoraja Retschka in Wladiwostok. Der Architekt verstarb 1996 in Solikamsk.

Das Haus in der Stoleschnikow Gasse beherbergte in der Folgezeit verschiedene Organisationen. Nach der Rekonstruktion wurde es 2020 wieder zu einem Wohnhaus.

Standortinformationen

Projektierungsinstitut Giprovtuz
Moskau, Stoleschnikow Gasse, 7