Römisch-katholische Kirche in Sowetskoje (ehemals deutsche Kolonie Mariental), Gebiet Saratow

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Römisch-katholische Kirche in Sowetskoje © Denis Anikin, 2020

Die Stadtsiedlung Sowetskoje trug bis 1942 den wohlklingenden Namen Mariental. Chronisten berichteten, dass die 1766 gegründete, deutsche Kolonie diesen Namen erhielt, nachdem die erste Kirche gebaut und der Jungfrau Maria geweiht worden war. Die hier erhalten gebliebene katholische Kirche aus dem Jahr 1834 gilt als Perle unter den Baudenkmälern deutscher Kolonien.

Die Geschichte sowohl des Gotteshauses als auch der deutschen Kolonie selbst ist bemerkenswert. Im Jahr 1774 trat der katholische Priester Johannes während eines Überfalls nomadisierender Kasachen und Kirgisen „auf die Vortreppe, um die Ankömmlinge zu begrüßen, wurde jedoch mit einem Lasso eingefangen“ und an einen kirgisischen Herrn verkauft, bei dem er als Hirte diente. Erst drei Jahre später wurde er freigekauft und konnte in seine Gemeinde zurückkehren. Noch heute ist rund um das Dorf ein Erdwall sehen, der zum Schutz vor Nomaden errichtet worden war.

Laut einigen Angaben hielten sich der künftige Kaiser Alexander II. und der Dichter Wassili Schukowski 1837 in Mariental auf. Ab 1917 erschien hier die Zeitung „Deutsche Stimmen“. Die Einwohnerzahl stieg in der Kolonie ständig. Da das Land nicht mehr ausreichte, waren die Einwohner gezwungen, in andere Regionen und sogar Länder zu ziehen: Eine deutsche Kolonie in Argentinien trägt den Namen Mariental – benannt nach dem Ort, den die Kolonisten verließen. Anfang des 20. Jahrhunderts zählte das Dorf ca. 7.000 Einwohner, die mehr als 900 Bauernhöfe besaßen. Vom deutschen Mariental sind bis heute dutzende solide Holz- und Backsteinhäuser aus dem Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts erhalten geblieben, sowohl öffentliche Gebäude als auch Wohnhäuser.

Römisch-katholische Kirche in Sowetskoje © Denis Anikin, 2020

Das Land galt als heilig, und den Jesuiten, die im Dorf ihre Mission gegründet hatten, sagte man nach, sie wären in der Lage, verschiedene Wunder zu vollbringen, zum Beispiel Regen heraufzubeschwören oder Wölfe zu vertreiben. Die Dorfeinwohner glaubten, die Jesuiten hätten die Kolonie gesegnet und es wäre ihnen zu verdanken, dass es hier hundert Jahre lang kein einziges Feuer gegeben hatte. Als jedoch die neue Macht einzog, war es mit dem Segen vorbei.

Die auswärtige Sitzung des Revolutionstribunals ließ im Jahr 1921 hunderte Teilnehmer des antisowjetischen Aufstandes im Dorf erschießen, unter anderem auch die Dorfpriester: den Dekan Nikolaus Kraft sowie den Historiker und Dramatiker Gottlieb Beratz. Als im Jahr 1929 die Glocken von der Marientaler Kirche heruntergerissen worden waren, brach im Dorf ein neuer Aufstand aus, der ebenfalls gewaltsam unterdrückt wurde. Die letzten Priester wurden der Spionage beschuldigt und erschossen. Nachdem das Gotteshaus im Jahr 1933 beschlagnahmt worden war, wurde das Kirchenkreuz heruntergerissen und vor dem Haupteingang wurden zwei Denkmäler für Lenin und Stalin errichtet. Bis Mitte der 1990er Jahre war in der ehemaligen Kirche ein Kulturzentrum untergebracht, bis ein Brand im Jahr 1995 das ehemalige Gotteshaus in eine Ruine verwandelte.

Römisch-katholische Kirche in Sowetskoje © Denis Anikin, 2020

Die Nachkommen deutscher Kolonisten, die heute in Deutschland leben, appellierten mehrmals an die Dorfeinwohner, die endgültige Zerstörung oder einen Abriss der Kirche zu verhindern. Russische öffentliche Organisationen und Privatpersonen setzen sich ebenfalls für die Konservierung des Sakralbaus und dessen Restaurierung ein.

Auf dem ehemaligen Kirchenplatz entstanden gegenüber von dem verfallenen Gebäude der katholischen Kirche eine Moschee und eine russisch-orthodoxe Kirche. Die russisch-orthodoxe Gemeinde der Jungfrau Maria von Wladimir befindet sich im Gebäude der ehemaligen deutschen Kirchenschule. Die Erwähnung der Gottesmutter im Namen der deutschen Kolonie, der katholischen Kirche und der russisch-orthodoxen Gemeinde gibt Hoffnung, dass die geistigen Bande zwischen Vergangenheit und Gegenwart bestehen bleiben.

Text

Prof. Dr. Sergey Terekhin, Prof. Dr. Olga Litzenberger

Standortinformationen

Römisch-katholische Kirche in Sowetskoje (ehemals deutsche Kolonie Mariental), Gebiet Saratow
Gebiet Saratow, Siedlung Sowetskoje, Lenina Str. 28
 

In Kooperation mit dem Bayerischen Kulturzentrum der Deutschen aus Russland e. V. (BKDR)

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