Stadtvilla des Müllers Emmanuel Borel, Volzhskaia Str. 22

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Stadtvilla des Müllers Borel © Alexander Milewski, 2021

Das Stadtbild von Saratow, das um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in den Zeitungen sogar als die „Hauptstadt der Wolgaregion“ gepriesen wurde, war nicht nur von Großprojekten geprägt. Wenn man durch die alten Wohnviertel flaniert und sich die Häuser und deren Details aufmerksam anschaut, entfaltet sich der allgemeine Begriff „Stadtbild“ als eine Palette persönlicher Entdeckungen, Gefühle und Eindrücke.

In den Vierteln, die den Stadtpark Lipki umgeben, stehen Stadtvillen der deutschen Müller Borel, Reinecke und Schmidt. Sie alle sind Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden, liegen nur wenige Schritte voneinander entfernt und gehören zur gleichen Bauart, der Stadtvilla. Damit endet die formale Ähnlichkeit jedoch auch schon und weicht eindeutigen stilistischen Unterschieden – die Brotkönige schienen miteinander zu wetteifern, wessen Residenz wohl am besten gelingen würde.

Als erste der erwähnten Familien entschloss sich die Familie Borel dazu, sich in der Nähe von Lipki niederzulassen. Im Jahr 1911 erwarb Emmanuel Borel das Haus, das zehn Jahre zuvor nach einem Entwurf des Architekten Pjotr Sybin in Saratow errichtet worden war. In diesem Fall handelt es sich also nicht um ein kreatives Zusammenwirken von Auftraggeber und Architekt. Doch der Familie Borel gefiel die Stadtvilla und änderte nach dem Kauf kaum etwas an ihr.

Stadtvilla des Müllers Borel © Alexander Milewski, 2021

Dieses Haus gehört zu den frühesten Jugendstilbauten der Stadt. Die Geschichte hat dieser Stilrichtung hier, ebenso wie in anderen russischen Provinzstädten, lediglich 15 bis 20 Jahre für den gesamten Entwicklungszyklus gewährt. Aber Architektur wird von lebenden Menschen gemacht. Was den Jugendstil betrifft, so hatten die meisten damaligen Architekten eine akademische und recht konservative Ausbildung erhalten. Um mit den neuen Trends schrittzuhalten, mussten sie praktisch ihr Weltbild, ihre professionellen Vorstellungen, Werte und Verfahren ändern. Einigen gelang es schnell, manch andere schafften es nie.

Pjotr Sybin war von den Ideen des Jugendstils fasziniert, als er bereits ein gestandener Mann und Profi war. Er bemühte sich aufrichtig, die künstlerische Sprache des neuen Stils zu verstehen und aufzugreifen, schaffte es jedoch nicht vollkommen, sich selbst und seine Anschauungen zu überwinden. Dieser Kommentar schmälert die Verdienste dieses Meisters jedoch keineswegs: Die Bauwerke von Sybin in Saratow fallen auf und ihr hohes professionelles Niveau steht außer Frage.

Stadtvilla des Müllers Borel © Alexander Milewski, 2021

Die Stadtvilla hat auf einem kleinen Eckgrundstück Platz gefunden. Sie scheint von allen Seiten eingeengt und zusammengedrängt zu sein: Die Raumaufteilung ist äußerst kompakt, jedoch nicht, weil die Räume kleiner zugeschnitten sind, sondern dank ihrer optimalen Konstellation. Wenn man das Gebäude betritt (was durchaus möglich ist, weil sich hier derzeit das städtische Standesamt befindet), stellt man überraschenderweise fest, dass die Säle der Stadtvilla, die um die Treppe herum angeordnet sind, sehr geräumig sind. Die Treppe selbst, ausgestattet mit geschnitzten Geländern, ist abgerundet und wirkt zusammengedrückt. Es scheint, als würde sie sich jeden Moment wie eine Sprungfeder entspannen und das Haus mitsamt seinen Zimmern und deren Einwohnern in die Höhe mitreißen.

Wenn man nun auf die Straße zurückkehrt, vor den Außenwänden stehen bleibt und nach oben schaut, kann man sehen, dass sie ein wenig geneigt und nahezu nach innen gebogen sind. Etwas gebogen erscheinen auch andere Elemente: die Pylone an den Ecken und deren Aufsätze, die Schilddächer, Fensteröffnungen und Fensterkreuze sowie die Gitter. Der Meister hat seine Mammutaufgabe, die ihn ein besseres Gefühl für den Stil und dessen Ausdruckskraft entwickeln ließ, blendend bewältigt: Er hat nicht nur den benötigten Raum und die Formen fantasievoll modelliert, sondern ihnen auch Leichtigkeit und Ausdruck verliehen.

Text

Prof. Dr. Sergey Terekhin, Prof. Dr. Olga Litzenberger

Standortinformationen

Stadtvilla des Müllers Emmanuel Borel, Volzhskaia Str. 22
Saratow, Volzhskaia Str. 22
 

In Kooperation mit dem Bayerischen Kulturzentrum der Deutschen aus Russland e. V. (BKDR)

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