Stadtvilla des Müllers Iwan Schmidt, Volzhskaia Str. 32

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Stadtvilla des Müllers Schmidt © Alexander Milewski, 2021

Der bekannte deutsche Müller Iwan Schmidt, der sich neben dem Park Lipki niederlassen wollte, beauftragte den Moskauer Architekten Kapitolij Dulin mit dem Entwurf für sein künftiges Haus. Die Bauarbeiten liefen zeitgleich mit denen für das Nachbarhaus, das einem anderen Kaufmann und Müller namens Reinecke gehörte, und wurden ebenfalls im Jahr 1912 abgeschlossen.

Der Architekt, der für seine Vorliebe für klassische Modelle und Motive bekannt war, griff auch für diesen Auftrag auf sie zurück. Aber ganz so einfach ist es nicht: Im Jugendstil kommen häufig bizarre Kombinationen verschiedener Trends und Stilrichtungen vor, die sich manchmal auch widersprechen. In jedem dieser Fälle hing das Ergebnis vom Geschick und Feingefühl des Planers sowie von der Fähigkeit des Auftraggebers ab, rechtzeitig einen Punkt zu setzen und die Grundidee nicht in Banalität und Farce ausarten zu lassen. In der Stadtvilla von Schmidt war dieses Gleichgewicht erfolgreich eingehalten und zum Ausdruck gebracht worden.

Stadtvilla des Müllers Schmidt © Alexander Milewski, 2021

Jede Stilrichtung hat hier ihren Platz gefunden. Die räumliche Gestaltung, der freizügige Grundriss und die asymmetrischen Fassaden sind auf den eigentlichen Jugendstil zurückzuführen. Die großen Fragmente und Elemente des Gebäudes (Eingangsportal, Attiken und Pilaster), die mit Rustika verkleideten Oberflächen der Fassadenwände, das Stuckwerk und die Plastiken sind dem Neoklassizismus nachempfunden. Die streng gehaltene grafische Gestaltung (zum Beispiel in den Details der großen quadratischen Fensterrahmen), die zurückhaltende Auswahl von Baustoffen und Details sind dem Rationalismus zu verdanken, der sich aus dem Jugendstil heraus entwickelt und ihn in der modernen Kunst bald darauf abgelöst hat. Man könnte sogar meinen, dass letzterer Trend vorherrscht und den Gesamteindruck von dieser Residenz prägt – wenn da nicht die „überladenen“ Plastiken wären: eine dekorative Grotte mit einem undefinierbaren Ungeheuer und zwei Löwen auf den Brüstungen vor dem Hauseingang. Dem Architekten ist es gelungen, diese zweifelhaften Verzierungen im Hof hinter einer hohen Sichtschutzmauer zu verstecken. Es fehlte ihm jedoch an Argumenten, um den Auftraggeber davon zu überzeugen, völlig auf sie zu verzichten. Aber wer weiß, vielleicht war es ja auch umgekehrt?

Stadtvilla des Müllers Schmidt © Alexander Milewski, 2021

Dennoch ist das Haus von Schmidt sehr schön: Es ist elegant und gleichermaßen stattlich und akademisch. Auch die Entstehung des benachbarten vierstöckigen Wohnhauses (1939, Volzhskaia Str. 34), dessen Architektur an einige Techniken von Kapitolij Dulin anlehnt und sie weiterentwickelt, ist ihm zugutegekommen.

Natürlich wurde diese Stadtvilla, ebenso wie hunderte andere Gebäude, gleich nach der Revolution beschlagnahmt. Iwan Schmidt kam nach seiner Enteignung ins Gefängnis, wurde später entlassen und arbeitete bis an sein Lebensende als Totengräber auf dem städtischen Deutschen Friedhof.

Text

Prof. Dr. Sergey Terekhin, Prof. Dr. Olga Litzenberger

Standortinformationen

Stadtvilla des Müllers Iwan Schmidt, Volzhskaia Str. 32
Saratow, Volzhskaia Str. 32
 

In Kooperation mit dem Bayerischen Kulturzentrum der Deutschen aus Russland e. V. (BKDR)

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